„Wir haben zu lange weggehört“
Die bayerische Landtagsabgeordnete Gabi Schmidt wird im Internet beleidigt und bedroht, nachdem ein manipulierter Redebeitrag in sozialen Netzwerken geteilt wird. Sie kennt ihre Rechte und erstattet online Strafanzeige über das neue Meldeverfahren der bayerischen Justiz - mit Erfolg.
Im Jahr 1992 trat Gabi Schmidt den Freien Wählern in Bayern bei. Seit drei Jahrzehnten macht sie nun Politik, zunächst in ihrer Heimatgemeinde im Landkreis Neustadt an der Aisch-Bad Windsheim, heute ist sie Landtagsabgeordnete und Mitglied des Landesvorstands ihrer Partei. In dieser Zeit hat sie viel erlebt. Mittlerweile ist sie geübt in der politischen Auseinandersetzung, schätzt den konstruktiven Streit. Doch mit den Jahren ist der Ton rauer geworden. Immer häufiger erlebt sie subtile oder auch ganz direkte Beleidigungen und Anfeindungen, nicht selten von Seiten der Bürgerinnen und Bürger, für die sie Politik macht.
Einmal kam jemand im Restaurant auf sie zu, während sie mit ihrer Familie zu Mittag aß und beschimpfte sie als „Ausländerunterstützungsschlampe“. Besonders schockierend: Die anderen Gäste im Restaurant ignorierten den Vorfall. Niemand stand ihr bei, während auch sie kaum wusste, wie eine angemessene Reaktion aussehen könnte. Heute markiert dieses Erlebnis für sie den Beginn einer Eskalation, die Anfang 2021 ihren bisherigen Höhepunkt fand.
Denn was am 8. Januar 2021 als Debatte im Plenarsaal des bayerischen Landtags beginnt, endet in einem digitalen Hatestorm auf Facebook. Die Diskussionen um den Umgang mit dem Coronavirus bewegen zu diesem Zeitpunkt die ganze Republik, auch im Süden Deutschlands debattieren Abgeordnete über die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie getroffen werden.
Wenig erstaunlich ist, dass sich die Gemüter bei diesem Thema im Münchner Landtag erhitzen. Im Laufe der Diskussion echauffiert sich ein AfD-Abgeordneter über die angeblich zu hohe Rücksichtnahme auf ältere Personen in der Pandemiebekämpfung. Gabi Schmidt kontert: Gerade heute sei der Geburtstag ihrer 93-jährigen Großmutter, die eine Vielzahl an Enkeln und Urenkeln habe. Wie könne man ihr das Recht auf Leben absprechen?
Im Nachgang der Sitzung wird der emotionale Schlagabtausch von der AfD-Landtagsfraktion aus dem Kontext gerissen. Einzelne Sequenzen der offiziellen Videodokumentation der Debatte werden zusammengeschnitten und als Beitrag auf verschiedenen sozialen Netzwerken geteilt. Schmidt betont: „Ich stehe zu jedem Wort, das ich gesagt habe, aber bitte nicht zusammenhangslos.“ In dem gebastelten Dialog, der so nicht stattgefunden hat, wird ein verfälschtes Bild der Plenardebatte vermittelt.
Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Zahlreiche Hasskommentare füllen die Seiten und Spalten. Mit vulgären, sexistischen und beleidigenden Botschaften greifen Kommentatoren die Politikerin direkt an. Schmidt ist über die Posts entsetzt: „Das war einfach eklig.“
Wie reagieren, wenn hasserfüllte Einträge an Menge und Intensität so zunehmen, dass man den Überblick verliert? Schmidt weiß, dass sie sich diese Erniedrigung ihrer Person nicht gefallen lassen muss. Sie kennt ihre Rechte und entscheidet sich für den direkten Weg: Ein neues, vereinfachtes Meldeverfahren für Online-Straftaten. Es ist eine der Maßnahmen, die das bayerische Innen- und Justizministerium als Reaktion auf die sich häufenden Fälle von Hass und Hetze gegen Amts- und Mandatsträger/innen umgesetzt hat. Jetzt können Betroffene die Anzeigen einfach online an die Justiz übermitteln. Geprüft werden sie durch den Hatespeech-Beauftragten der bayerischen Justiz, Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Hartleb.
Sowohl die Notwendigkeit als auch der Erfolg dieser bayerischen Initiative lassen sich messen: Im Jahr 2021 wurden im größten Bundesland Deutschlands 2317 neue Verfahren wegen Hate-Speech geführt, ein Anstieg um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In 1881 konnte gegen bekannte Beschuldigte ermittelt werden, in 436 Verfahren gegen Unbekannt. Damit verzeichnet die bayerische Justiz eine beeindruckende Aufklärungsquote von 80 Prozent.
Gabi Schmidt hat dazu beigetragen: Über den Weg der Online-Anzeige stößt sie ab Januar 2021 nicht weniger als 47 Strafverfahren an. Mit Erfolg: So wird beispielsweise der Urheber des Kommentars „Wo ist die denn entlaufen? (drei lachende Emojis)“ rechtskräftig verurteilt und muss nun eine Geldstrafe von 800 Euro wegen Beleidigung zahlen. Strafrelevant war dabei seine zum Ausdruck gebrachte Missachtung Gabi Schmidts und die implizite Unterstellung, sie müsse zwangsweise untergebracht und überwacht werden.
„Ich wäre da gerne dabei gewesen, als die Schreiben des Staatsanwalts auf die Frühstückstische flatterten“ meint die Abgeordnete. Die Beleidiger im Netz, das seien zum größten Teil ältere Herren gewesen, aus der Mitte der Gesellschaft. Frauen hingegen sind oft gewähltes Ziel von Erniedrigung und Beleidigung. Vor allem Frauen in der Politik werden mit direktem Bezug auf ihr Geschlecht angegriffen.
Heute meint Schmidt: „Wir haben zu lange weggehört und weggeschaut bei so unmöglichen Kommentaren“. Das konsequente Dokumentieren und Anzeigen von Hass und Beleidigung im Netz hält sie deshalb für unabdingbar. Handlungsdruck sieht die Abgeordnete aber nicht nur bei den Betroffenen, vielmehr müsse das ganze System des politischen Betriebs sensibilisiert werden. Noch würden auf von Steuergeldern finanzierten Fraktionsseiten im Netz gezielte Desinformationen geteilt und Hasskommentare toleriert. Insbesondere die AfD informiere „ihren Fanclub gezielt falsch“.
Gabi Schmidt hat sich auch für die Zukunft vorgenommen, nicht wegzusehen. Das hat vor allem einen Grund: „Ich habe drei Töchter und eine Enkeltochter. Ich möchte denen vermitteln, dass man sich nicht schlechtreden lassen darf.“