„Hass ist keine Meinung“
Gilda Sahebi hat einen besonderen Blick auf Hatespeech. Als Ärztin, Politikwissenschaftlerin und Journalistin weiß sie, was der Hass im Körper und in der Gesellschaft anrichtet. Hier erklärt sie, was Betroffene tun können, wenn sie im Netz angefeindet werden.
Frau Sahebi, was passiert, wenn man eines Morgens den Rechner hochfährt und sich mit einer Flut von Hassnachrichten konfrontiert sieht?
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Hatespeech dieselben psychischen und emotionalen Folgen haben kann wie körperliche Gewalt. Wir alle wissen, wie lange es einem nachhängen kann, wenn man auf dem Fahrrad angeschrien wird. Oft denkt man noch Stunden über so einen Vorfall nach. Bei einem Hatestorm wird dieser Effekt noch potenziert: Jede Stressreaktion wirkt in der Amygdala, dem Angstzentrum im Gehirn. Der Körper schüttet dann massiv Stresshormone aus. Die Betroffenen befinden sich in einer Kampf-oder-Flucht-Situation, einem ständigen Alarmzustand.
Was sind die Folgen?
Man fühlt sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher, man leidet an Schlafstörungen oder Konzentrationsschwäche. Das kann bis zur posttraumatischen Belastungsstörung gehen. Viele Betroffene entwickeln auch eine Depression und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück. Es ist klar: Hatespeech ist nicht „etwas Ähnliches“ wie Gewalt. Hatespeech ist Gewalt. Hinzu kommt: Hass im Netz schlägt oft in körperliche Gewalt um.
Wie können betroffene Personen mit der Masse an bedrohlichen und abwertenden Nachrichten umgehen?
Man muss sich klarmachen: Die Menschen, die hassen, sind in der Minderheit. Es gibt eine Studie vom Londoner Institute for Strategic Dialogue über Facebook, die herausfand, dass 50 Prozent der Likes für Hasskommentare von fünf Prozent der Profile kamen. 25 Prozent der Likes für Hasskommentare kamen von einem Prozent der Profile. Das heißt: Man hat es mit einer kleinen, sehr lauten Minderheit zu tun. Die allermeisten User lesen still mit und mischen sich nicht ein.
Gibt es typische Muster, nach denen ein Hatestorm verläuft?
Es gibt eine Vielzahl von Strategien, und für Betroffene kann es hilfreich sein, sich diese Mechanismen bewusst zu machen. Hass im Netz fängt niederschwellig an: etwa mit dem berühmten Haha-Smiley auf Facebook, mit dem zynisch auf tragische Meldungen reagiert wird. Eine ähnliche Strategie ist der vermeintliche Einsatz von Humor. Man kann beleidigen, sich dann aber doch damit rausreden, dass alles „nicht so ernst gemeint“ sei. Sehr beliebt sind Memes, also die Kombination von Bildern und Textelementen, die sich schnell im Netz verbreiten. Das war auch im Fall von Walter Lübcke zu beobachten, dessen Porträt mit Aufschriften wie „Volksverräter“ versehen und verbreitet wurde.
Welche Strategie steckt hinter solchen Aktionen?
Die vielen Einzelmeldungen bilden ein Narrativ: Lügen und Falschmeldungen dienen oft dazu, die angegriffenen Personen in größere Verschwörungen einzubauen. So ein Shit- oder Hatestorm fängt in den sozialen Medien oft in rechten oder extremen Kreisen an. Häufig kommen dann Bots zum Einsatz, fiktive Profile, hinter denen keine realen Personen stecken, sondern Algorithmen. Diese Profile haben oft wenige Kontakte und generische Inhalte wie Tierfotos. Aber die Bot-Netzwerke können dazu dienen, einen Hatestorm massenhaft zu teilen und so in der Nachrichtenhierarchie der sozialen Netzwerke hochzudrücken – bis er von realen Nutzern gesehen und geteilt wird und irgendwann im Mainstream ankommt.
Was weiß man über die Absender von Hatestorms?
Es gibt tatsächlich bisher relativ wenig Erkenntnisse. Klar ist aber, dass man es nicht nur mit den stereotypischen abgehängten Arbeitslosen zu tun hat, sondern dass Trolle aus allen Teilen der Gesellschaft kommen. So bezeichnet man Personen, die beständig mit abseitigen Kommentaren im Netz zündeln. In Frankreich wurde 2019 ein Netzwerk von Trollen aufgedeckt, das sich „Ligue du LOL“ nannte und gezielt Frauen, vor allem solche mit dunkler Hautfarbe, in sozialen Netzwerken beleidigte und bedrohte. Es kam heraus, dass zum Teil sehr etablierte Journalisten und Medienschaffende dahintersteckten.
Wieso wachsen Wut und Hass gerade in digitalen Medien so schnell?
Das Netz verstärkt und verzerrt natürliche Mechanismen unserer Wahrnehmung und Kommunikation. Wir alle haben bewusst oder unbewusst Angst, allein zu sein auf der Welt. Und wir wollen unser Bild von der Welt bestätigt bekommen. In den Online-Gruppen erhalten wir die Illusion, von lauter Gleichgesinnten umgeben zu sein. Fast jeder hat schon mal von dem sogenannten Blaseneffekt gehört, durch den sich Meinungen schnell radikalisieren. In diesen Gruppen kommt man in Kontakt mit neuen Formen und Zielen für Hass, man bewundert lautstarke Mitglieder und imitiert diese. Und dann kann es ein sehr kleiner Schritt sein, selbst zu beleidigen oder zu drohen. Weil man das Gefühl hat, einen großen Teil der Gesellschaft hinter sich zu haben, agiert man selbstbewusst als Sprachrohr dieser Gruppe.
Was denken Sie: Haben die Absender/innen der Hassnachrichten ein schlechtes Gewissen nach dem Klicken auf den Senden-Button?
Wohl kaum. Es geht um Machtausübung. Viele dieser Beleidigungen und Drohungen werden ganz bewusst abgeschickt. Man weiß um die Angst, die man auslöst. Das verleiht Macht. Und Macht ist ein gutes Gefühl. Es ist auch kein Zufall, dass Frauen, Angehörige der LGBTQ-Community und Menschen mit Migrationshintergrund im Netz bösartiger angegangen werden. Und jede Zielgruppe des Hasses wird auf eine bestimmte Art abgewertet – werden Frauen angegriffen, sind die Drohungen sehr schnell sexualisiert – bis hin zu Vergewaltigungswünschen. Das prägt unser Verhalten im Netz. Es gibt eine Studie von Amnesty International, die herausgefunden hat, dass Frauen auf Twitter sehr zurückhaltend und unsicher agieren, weil sie wissen, dass sie in diesem toxischen Milieu Gefahr laufen, gezielt beleidigt und bedroht zu werden.
Wie können sich Bürger/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft verhalten, wenn sie Zeuge von Hass im Netz werden?
Wenn jemand auf dem Bahnsteig angegriffen wird und keiner einschreitet, fühlt sich der Täter bestätigt. Sobald aber nur eine Person einschreitet, ermutigt das andere, dazwischenzugehen. Es kann im Netz sinnvoll sein, Gegenrede zu organisieren und die Lügen und die Hetze zu entkräften und positive Botschaften zu senden. Diese Aktion hat nicht zum Ziel, die Angreifer/innen zu überzeugen, sondern richtet sich an die Öffentlichkeit, die stillen Lesenden. Damit macht man klar: „So kommuniziert man nicht, Punkt!“ Generell ist Solidarität das A und O in einem Hatestorm. Wenn die Betroffenen merken, dass sie nicht allein einer anonymen, wütenden und bedrohlichen Masse ausgesetzt sind, ist ihnen sehr geholfen. Wenn ich mitbekomme, dass eine Freundin oder ein Freund von mir mit Hass konfrontiert ist, schreibe ich: „Brauchst Du Hilfe?“ Wenn das verneint wird, ist es okay, dann darf man auch nicht hartnäckig nachfragen. Andernfalls bin ich zur Stelle.
Und welche Möglichkeit bleibt den Betroffenen selbst?
Sie dürfen sich mit ihren Ängsten, ihrer Verunsicherung und ihrer Wut nicht zurückziehen. Am besten tauschen sie sich mit vertrauten Personen in einem sicheren Kommunikationsraum aus. Und klar ist auch: Sobald man merkt, dass die Angst gewinnt, dass sich Schlafstörungen und Panikattacken einstellen, muss man sich psychologische Hilfe holen. Wichtig ist: raus aus der Passivität!
Wie geht das?
Die erste Regel ist, dass man sich die einzelnen Beiträge nicht selbst durchliest. Hass ist keine konstruktive Position, mit der man sich auseinandersetzen muss. Hass ist auch keine Meinung. Da muss man durchaus auch gegen die eigenen Instinkte ankämpfen, denn natürlich will man wissen, was über einen gesagt wird. Eine Möglichkeit ist, dass man eine vertraute Person bittet, die Nachrichten nach Strafbarkeit zu durchsuchen und bei der Beweisaufnahme zu helfen. Es ist wichtig, dass im Justizsystem ankommt, wie viel Hatespeech es gibt und wie groß das Problem ist. Jede Anzeige hilft weiter.
Interview: Paul-Philipp Hanske
Mehr zur Person
Gilda Sahebi ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin – und arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Kolumnistin der „Taz“ und arbeitet unter anderem für den WDR und „Die Welt“. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie beim Bayerischen Rundfunk, und sie war Autorin für die ZDF-Sendung „Neo Magazin Royale“. Sie ist Referentin bei den Neuen deutschen Medienmacher*innen in Berlin.