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„Die Verrohung schreitet voran, die Hemmschwellen sinken!“

Die Bürgerinnen und Bürger in Thüringen sind in diesem Jahr gleich dreimal zur Wahl aufgerufen: am 26. Mai zur Kommunalwahl, am 9. Juni zur Europawahl und am 1. September zur Landtagswahl. Im Vorfeld kommt es schon seit einiger Zeit vermehrt zu Anschlägen, Angriffen auf Parteibüros und Einschüchterungsversuchen. Was ist da los in Thüringen? Und wie wehren sich die demokratischen Kräfte?

Symbolbild für einen Brand | Copyright: Canva

„Wenn ich abends mein Auto abstelle, dann überlege ich genau, wo ich das mache, bestenfalls unter einer Laterne“, sagt Ulrike Jary. Die Vorsitzende des CDU-Ortsverbands im thüringischen Wutha-Farnroda im Wartburgkreis hat einiges erlebt in Wahlkämpfen – und ist entsprechend vorsichtig geworden. 

Einschüchterungsversuche hat sie nicht nur einmal erlebt: Bei einer Veranstaltung kam ein Pulk von Menschen auf sie zu, es wurden Handy-Videos gemacht und gerufen „Da ist sie ja, die Möchtegern-Bürgermeisterin.“ Selbst vor ihrem Vater machten verbale Angriffe nicht halt: „Was willst du alter Mann? Ich drücke dir gleich die Augen zu“, hieß es bei einem Wahlkampftermin. Das war 2020. Ulrike Jary kandidierte als Bürgermeisterin, um, wie sie sagt, die Wahl eines ersten deutschen AfD-Bürgermeisters in ihrer Heimatstadt zu verhindern. Das gelang, ein parteiloser Kandidat gewann die Wahl, Jary wurde seine Stellvertreterin. 

Heute, vier Jahre später, steht Ulrike Jary im thüringischen Kommunalwahlkampf. „Die politische Unkultur und die Politikverdrossenheit haben weiter zugenommen“, sagt sie. Doch sie lässt sich nicht entmutigen. Macht viel Haustürwahlkampf, geht mit Parteifreunden durch die Dörfer, verteilt Flyer, ist ansprechbar. Klar, dabei werde man auch blöd angemacht, sagt sie. Bestimmten Gesprächen müsse man sich dann einfach entziehen, bevor sie eskalieren könnten. 

Eskaliert ist in Thüringen in den vergangenen Monaten und Jahren so einiges:

  • Die Angriffe auf Wahlkreisbüros haben stark zugenommen. 2021 gab es 42 Attacken, 2022 schon 63 und im vergangenen Jahr sogar 82. Betroffen waren und sind alle Parteien, von den Linken über die Grünen bis hin zur AfD. Im Jahr 2022 war die AfD am häufigsten betroffen, im letzten Jahr haben vor allem Angriffe auf SPD-Büros stark zugenommen. Häufig werden Scheiben eingeworfen, wie im Fall der SPD-Landtagsabgeordneten Diana Lehmann in Suhl. Oder es werden Misthaufen vor die Büros gekippt, wie im Fall von Grünen-Landtagsabgeordneten in Gera und Ilmenau. Das Wahlkreisbüro von Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) in Bleicherode im Landkreis Nordhausen wurde mit Hakenkreuzen beschmiert.
     
  • Verbale Drohungen gegen kommunalpolitisch Aktive sind keine Seltenheit. Thomas Schulz (Freie Wähler), Oberbürgermeister von Oberhof, berichtet: "Es kam vor, dass jemand, von dem man weiß, dass er im Besitz von Schusswaffen ist, gesagt hat: 'Wenn ich dich mal treffe, dann vielleicht zwischen die Augen.'" Und André Neumann, CDU-Oberbürgermeister von Altenburg, sagt: „Es gibt Zurufe auf der Straße, sehr vulgär, menschenverachtend, bis hin zu Sätzen wie: 'Zum Tag X hängst du samt Familie auf dem Markt, verschwinde lieber vorher'“. Bei der Linken-Politikerin Simone Post, die bei den Kommunalwahlen für das Bürgermeisteramt in Rudolstadt kandidiert, ging es über verbale Attacken hinaus: "Es gab Eierwürfe, es gab Aufkleber-Aktionen und ich wurde persönlich an Infoständen angegangen. Von Ausspucken vor einem bis zu Sprüchen wie: 'Euch müsste man alle aufhängen.'" 
     
  • Dass dies keine Einzelfälle sind, zeigt der Forschungsbericht „Demokratie unter Druck – Anfeindungen auf Amtsträger*innen in der Kommunalpolitik und Beschäftigte der Kommunalverwaltung Thüringens“ aus dem Jahr 2023. Demnach haben 51 Prozent der Kommunalpolitikerinnen und -politiker und 63 Prozent der Verwaltungsmitarbeiter Anfeindungen oder Angriffe erfahren – besonders häufig in größeren Städten. Darunter Beschimpfungen als Zionistenschwein, Morddrohungen per E-Mail, Verleumdungen als Kinderschänder, gelöste Radmuttern am KFZ, körperliche Auseinandersetzungen wie „in den Schwitzkasten nehmen“ und Angriffe mit einem Messer. „Die Situation hat sich seither keinesfalls verbessert“, konstatiert Axel Sahlheiser, wissenschaftlicher Leiter am Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, das den Forschungsbericht herausgegeben hat. „Viele kommunalpolitisch Aktive vermuten, dass nicht selten Personen aus dem Reichsbürger-Milieu hinter den Anfeindungen stecken. 
     
  • Abbildung aus dem Forschungsbericht "Demokratie unter Druck –

    Anfeindungen auf Amtsträger*innen in

    der Kommunalpolitik und Beschäftigte

    der Kommunalverwaltung Thüringens"

  • Der schwerwiegendste Vorfall war im Februar ein Brandanschlag auf das Privathaus des SPD-Lokalpolitikers Michael Müller in Waltershausen im Landkreis Gotha. Die Täter hatten den Eingangsbereich des Hauses und ein davor geparktes Auto angezündet, dabei Brandbeschleuniger verwendet. Müller war nicht zu Hause, wohl aber Gäste mit einem Baby. Sie konnten gerade noch rechtzeitig Hilfe rufen. "Wenn sie ein paar Minuten später nachgeschaut hätten, hätte das komplett aus Holz gebaute Haus wohl in Flammen gestanden", sagt Müller. „Ich war in der ganzen Welt unterwegs, habe unter freiem Himmel übernachtet, nun habe ich Angst zu Hause im eigenen Bett.“ Vermutlich steht die Tat in Zusammenhang mit der Demonstration „Nie wieder ist jetzt! Für Demokratie und gegen Faschismus“, die Müller organisiert und öffentlich beworben hatte.  

„Wir müssen leider davon ausgehen, dass das kein Einzelfall bleibt“, sagt der SPD-Innenminister Georg Maier gegenüber stark-im-amt.de. „Die Verrohung schreitet voran, die Hemmschwelle sinkt.“ Auch Maier selbst hat sehr unliebsame Erfahrungen gemacht, im Januar in Schleiz bei der vom „Bündnis Dorfliebe für alle“ organisierten Veranstaltung „Kein Landratsamt der AfD“: „Da kamen Gegendemonstranten ganz martialisch daher, mit Trommeln und Fahnen, bedrohten Teilnehmer mit Sätzen 'Wir wissen, wo Du wohnst' und ähnlichem.“ 

Im Fall des Anschlags auf das Haus von Michael Müller hat die Polizei eine 16-köpfige Sonderkommission eingesetzt. Doch die Aufklärungsquote bei Straftaten ist gering, die Dunkelziffer hoch. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle werden keine Täter ausfindig gemacht, Ermittlungen eingestellt. Ob der jüngst vom Thüringer Innenministerium organisierte „Sicherheitsgipfel“ Abhilfe schaffen kann? Der Informationsfluss zwischen Verfassungsschutz und Polizei soll optimiert, der Staatsschutz verstärkt werden. Präventionsprogramme sowie die Hotline (0361/662 711134) für Amts- und Mandatsträgerinnen und Mandatsträger in der Landeseinsatzzentrale der Thüringer Polizei sollen stärker beworben werden.

Viele Betroffene sind unzufrieden mit der jetzigen Situation. André Neumann, der CDU-Oberbürgermeister von Altenburg sagt: „Wenn alles eingestellt wird über die Staatsanwaltschaft oder jemand für eine Morddrohung 200 Euro bezahlt, dann reicht das nicht. Es muss in der Gesetzgebung und in der Verfolgung einfach mehr getan
werden. Ich will spüren, dass auf die geachtet wird, die für die Demokratie vor Ort kämpfen, die da sind, die unser Land nach vorne bringen wollen.“ Ganz Ähnliches wünschen sich die für den Forschungsbericht „Demokratie unter Druck“ Befragten. Neben mehr Beratungsangeboten und Sicherheitsschulungen lautet die zentrale Forderung: eine konsequentere Strafverfolgung. 

  • Abbildung aus dem Forschungsbericht "Demokratie unter Druck – Anfeindungen auf Amtsträger*innen in der Kommunalpolitik und Beschäftigte der Kommunalverwaltung Thüringens"

Nach der Wende 1989 war Thüringen besonders stark von der Transformation betroffen, bis auf Jena gibt es kein größeres Industriezentrum. Hinzu komme, so Martin Debes, ein Elitenproblem infolge der Abwanderung und der Geburtenarmut: „Der Fachkräftemangel betrifft auch die Politik. Es gibt wenige gute einheimische Leute mit dem nötigen Selbstbewusstsein. Deshalb haben wir größtenteils eher durchschnittliches politisches Personal, das mit der politischen Dauerkrise sichtlich überfordert ist.“ Zudem kämen die Landtagsspitzenkandidaten mehrheitlich aus dem Westen, so auch der aus Westfalen stammende AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke.

Auch SPD-Innenminister Georg Maier hält die politische Lage für problematisch: „Wir haben eine Landesregierung, die jahrelang als Minderheitsregierung agieren musste. So funktioniert Demokratie nicht optimal.“ Das gebe Populisten, die behaupten, die Demokratie funktioniere nicht, immer wieder neuen Nährboden.

Die aufgeheizte Lage hat allerdings auch dazu geführt, dass mehr und mehr Menschen bewusst wird, dass Politik etwas ist, was sie sehr wohl direkt angeht und wofür es sich zu engagieren lohnt. Ulrike Jary von der CDU hat dies erfahren, als ihre Partei die Liste für die Kommunalwahl auch für Nicht-Parteimitglieder öffnete: Es gab keine Probleme, die Liste mit Namen zu füllen – und es kamen Menschen hinzu, die sich bislang noch nicht öffentlich engagiert hatten.

Ähnliches berichtet Innenminister Maier „Wir haben vermehrt Parteieintritte zu verzeichnen und auch keine größeren Probleme, Kandidaten für die Kommunalwahlliste zu finden. Viele sagen, ich kann nicht ein Demokrat auf dem Sofa sein, ich muss auf die Straße und für die Demokratie einstehen.“ Es gebe, so Maier, angesichts der Bedrohung von rechts, auch eine höhere Wertschätzung der demokratischen Parteien untereinander. Und man schätze bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeiten.

Wie sich ein Wahlkampf seelisch und körperlich unbeschadet überstehen lässt
(Empfehlungen von Ulrike Jary, Axel Salheiser, Georg Maier, Hate Aid e.V.)

  • Beim Haustürwahlkampf, beim Flyer verteilen und Plakate aufhängen möglichst im Team unterwegs sein. Das macht mehr Spaß als allein und stärkt den Rücken im Fall von Konflikten.
     
  • Mit seinen Ressourcen achtsam umgehen. Sich immer mal wieder fragen, wo es Sinn macht, tiefer ins Gespräch zu gehen oder wo es einen nur aufregt und zu unangemessenen Konflikten führt. Dann ist es besser, aus der Situation herauszugehen.
     
  • Sich nicht scheuen, Anfeindungen und Beleidigungen anzuzeigen. Das ist mühsam und zeitaufwendig, aber wichtig, damit die Betreffenden nicht glauben, sie kämen damit durch.
     
  • Sich nicht ein dickes Fell wachsen lassen, sondern kollegiale Beratung in Anspruch nehmen und aktive Unterstützung nahestehender Personen einfordern.
     
  • Die Hotline (0361/662 711134) für Amts- und Mandatsträgerinnen und Mandatsträger in der Landeseinsatzzentrale der Thüringer Polizei nutzen (unter der Nummer werden Beratungswünsche entgegengenommen, weitervermittelt oder ggf. polizeiliche Sofortmaßnahmen eingeleitet. Es besteht auch die Möglichkeit, sich individuell durch eine der örtlichen polizeilichen Beratungsstellen beraten zu lassen.)
     
  • Wenn es im persönlichen Kontakt zu Konflikten kommt, die zu eskalieren drohen, gibt es Verhaltensweisen für den Selbstschutz, die stark-im-amt.de zusammengefasst hat.
     
  • Im Fall von Hatespeech Beratungsstellen in Anspruch nehmen. Bundesweit etwa bei hateaid.org oder in Thüringen die elly-beratung.de in Erfurt, die über mögliche rechtliche Schritte informiert und Betroffene begleitet.
     
  • Rechtssichere Screenshots von Hatespeech auf Social Media erstellen, mit URL des entsprechenden Links, Datum und Uhrzeit siehe hier die Hinweise von HateAid (LINK).